Santiglais-Trichjie: ein alter Nikolausbrauch in der Grafschaft

Am 5. Dezember - also ein Tag vor dem St. Nikolaustag - wird die Ankunft des Nikolaus in der Grafschaft mit einem Umzug und dem Geläut von Kuhglocken (Walliser Deutsch: Trichjie)gefeiert. Hier existiert der Brauch seit über 200 Jahren. Die Tradition ist aber auch jenseits der Grimsel in Bern, Schwyz oder Unterwalden bekannt. Ihr Ursprung ist nicht vollständig geklärt. Manche vermuten, dass der Lärm die finsteren Gestalten vertreiben soll, welche die Menschen in früheren Zeiten mit dem dunklen, kalten Winter verbunden haben.


Glockengeläut in der Winternacht


Warm eingepackt stehen die Zuschauer am Strassenrand. In der Winternacht ist es zuerst still, dann vernimmt man von weitem das Glockengeläut. Der Umzug nähert sich. Ein Fähnrich führt ihn an. Er schwingt die Walliser- oder Schweizerfahne. Ihm folgt der Laternenträger mit einem Gestell aus Holz, an dem Lampen befestigt sind, die in der Dunkelheit leuchten. Dann sehen wir die Hauptperson des Abends: den Nikolaus, umgeben von seinen Dienern in weissen Hemden mit Säbeln und Strohhüten.
Der Lärm schwillt an, denn jetzt laufen die Trichjier vorbei. Sie haben sich die Glocken um die Hüften geschnallt. Bei jedem Schritt schwingen sie von einer Seite zur anderen und klingen laut. Je nach Grösse der Glocken ist das ein richtiger Kraftakt. Leute mit Eselsköpfen laufen hin und her und verbeugen sich vor dem Nikolaus, sobald sie an ihm vorbeikommen. Weiter hinten jagen dunkel gekleidete Schmutzlis mit ihren Gretzen (Ruten) die Zuschauer, was für Schreie und Gelächter sorgt.



Seit den 1940er Jahren fanden die Vorbereitungen für den Nikolausumzug stets im Elternhaus von Markus Walther in Selkingen statt. Als Zeitzeuge berichtet er vom alten Brauch und inwiefern er sich bis heute verändert hat.

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Markus, die Vorbereitungen zum Nikolausumzug haben früher in deinem Elternhaus stattgefunden. Wie sah das aus?
Meine frühesten Erinnerungen sind aus den 1950er Jahren. Vor dem Umzug haben sich bis zu 20 Personen in unserer Stube (Wohnzimmer) versammelt. Dazu mussten wir das spärliche Mobiliar, das sich damals darin befand, zur Seite stellen.
Meine Mutter kümmerte sich um kaputte Nähte oder befestigte einen Gummi am Nikolausbart, damit dieser dem Träger nicht vom Gesicht rutschte.
Mein Vater hat das Maultier im Wald neben dem Haus gesattelt und für den Nikolaus vorbereitet. Einmal gab es einen Santiglais, der sich standhaft weigerte, aufzusteigen. In dem Jahr kam deshalb ein Schlitten zum Zug. Normalerweise wurde der Nikolaus aber irgendwie aufs Maultier bugsiert und mein Vater übernahm als Tierführer. Als kleines Kind war das alles sehr spannend für mich.

Wie hat sich der Brauch seit deiner Kindheit verändert?
Früher war der Brauch eine Sache der Buben von der ersten bis zur achten Klasse. Die Ältesten waren dafür verantwortlich, dass das „Trichjie“ zustande kam.
Seit Mitte der 1960er sind auch die Mädchen dabei. Schüler von Kindergarten bis zur Orientierungsschule helfen mit. Ausserdem wird der Umzug heute vom „Trichjier-Club“ organisiert und auch Gäste können als „Trichjier“ mitmachen. Die „Trichjier“ tragen dunkle Hosen, ein weisses Hemd und – wenn sie wollen – eine rote Zipfelmütze.
Die Laternenträger hat man in der Zwischenzeit modernisiert. Heute sind sie mit einer Batterie im Rucksack ausgerüstet, welche die Lampen beleuchtet. Der Ablauf des Ganzen ist aber immer noch identisch. Nur die Vorbereitungen bei uns zuhause gibt es nicht mehr. Der Umzug wurde immer grösser und unsere Stube zu klein.

Stimmt es, dass beim Umzug neben den Schulkindern auch erwachsene „Trichjier“ dabei sind?
Ja das ist relativ neu und eine super Sache wie ich finde, da es den gesamten Brauch wieder belebt hat. Heute kommen von kleinen Kindern bis zu Rentnern alle trichjien, die Freude daran haben. Die Erwachsenen machen den Abschluss des Umzugs mit sehr grossen Kuhglocken, was für die Ohren etwas ganz Schönes ist.

Für die Schulkinder beginnt der Nikolausbrauch schon drei Wochen vor dem 5. Dezember. Was machen sie in der Zeit?
Früher hat der älteste Jahrgang dafür geschaut, dass bereits drei Wochen vor dem eigentlichen Umzug „getrichjiet“ wurde. Die ältesten zwei Buben des Jahrgangs waren die Chefs. Die Schulkinder gingen am Donnerstag- und Sonntagnachmittag durch die Dörfer. Auch heute noch beginnen die Kinder drei Wochen vor dem 5. Dezember mit dem Trichjen. Dabei machen sie ihre Runden am Mittwochnachmittag, Samstag und Sonntag.

Tagsüber am 5. Dezember gehen die Schulkinder auf Betteltour. Was kann man sich darunter vorstellen?
Die Betteltour war und ist noch immer ganz wichtig und der Zahltag (Lohn) für die Arbeit der Schulkinder. Sie ziehen schliesslich in den drei Wochen vor dem 5. Dezember bereits in kleineren Umzügen mit den Trichjien durch die Dörfer und organisieren sich dafür selbst.
Besonders schön fanden wir immer, dass am 5. Dezember schulfrei war. Als erstes haben sich die „Trichjier“ beim Schulhaus versammelt. Anschliessend machte man eine Runde durch die Gemeinde. Wir gingen von Haus zu Haus und klingelten. Meistens liess man uns trotz der verschneiten Kleider und Schuhe herein und wir kriegten eine Gabe: Äpfel, Biscuits, manchmal Geld. Nach einem lärmigen Dankesgeläut mitten im Wohnzimmer ging es weiter zu den Nachbarn.
Am Abend trafen wir uns wieder beim Schulhaus. Die Bettelgaben wurden möglichst gerecht verteilt. Geld kam in die Schulkasse, um Schulreisen oder Anschaffungen zu finanzieren.

Der Abschluss des Nikolausumzugs war früher anders als heute. Inwiefern?
Die Hälblige (16-jährige Jungen) kamen früher zu ihrem ersten Tanz. Der Tanz wurde von den ältesten Buben organisiert. Man musste den Pfarrer, der zu der Zeit auch Schulpräsident war, fragen ob die Mädchen an den Tanz kommen dürfen. Es hiess dann meist: kein Alkohol und benehmt euch. Am Tanz gab es die ersten Liebschaften. Ich finde, das war ein schöner Ausklang des Nikolausbrauchs. Schade, dass sich das nicht halten konnte.

Wie wird der Abschluss des Umzugs heute gestaltet?
Da der Nikolausumzug grösser wurde und viele Auswärtige dabei sind, ist der Tanz weggefallen. Man macht einfach die Tour Selkingen, Ritzingen, Biel zum Schulhaus. Dort gibt es für alle warmen Wein (Glühwein). Nach einem letzten „Trichjien“ als Dank für die Zuschauer geht es weiter ins Restaurant Weisshorn, um den Abend ausklingen zu lassen. Aber individuell hat es morgens um drei oder vier noch einen oder zwei, die eine weitere Runde in der Grafschaft drehen. Das ist sicher auch ein schöner Abschluss.



Dieser Bericht beruht auf den Erzählungen von Walther Markus, Selkingen.

Markus Walther war über Jahrzehnte hautnah am Geschehen des St. Nikolaus Umzuges in der Grafschaft. In seinem Elternhaus fanden die letzten Vorbereitungen für den grossen Umzug am 5. Dezember jeweils statt.